Die Interviews für Maximum Rock

Christoph Geisselhart, Künstler und Autor, hat für seine Biografie über die britische Rockgruppe The Who Augenzeugen, Musiker, Freunde und Geschäftspartner der Band befragt - darunter natürlich vor allem Pete Townshend, den damals 64-jährigen Schöpfer der großen Who-Hits; aber auch Simon Phillips, Who-Schlagzeuger zwischen 1989 bis 2000; Godfrey Townsend, einst glühender Who-Fan in New York und später Mitglied der Band des Who-Bassisten John Entwistle; Shel Talmy, Produzent der frühen Who-Platten, oder Irish Jack Lyons, der als ältester Fan der Gruppe im Mod-Opus Quadrophenia sogar Teil des Werks wurde. Auszüge aus diesen Interviews und Hintergrund-Stories werden hier veröffentlicht.

„A Cork Modyssey“ von Irish Jack

"Wir Iren neigen ja dazu, eine Geschichte auf dreierlei Weise zu erzählen", schrieb mir Irish Jack unlängst von der grünen Insel, dem Land der wortmächtigen und trinkfestesten Dichter Europas. "Erst kommt der wahrheitsgemäße Teil, dann der überspitzte und schließlich der glaubwürdige Teil." In seinem Beitrag, der als Nachwort im zweiten Band von MAXIMUM ROCK nachzulesen ist, beweist der dienstälteste Who-Fan die Richtigkeit seiner These. Pete Townshend und Roger Daltrey kommen nach einundvierzig Jahren im Sommer 2007 wieder nach Cork - keine Frage, dass Irish Jack aus diesem denkwürdigen Wiedersehen eine meisterhafte, konzentrisch erzählte Geschichte zu stricken versteht. "Das alte Foto hier stammt übrigens aus den frühen Modzeiten. Ich halte die Finger so komisch überkreuzt, weil ich das kurz zuvor in einem Magazin über The Who gesehen hatte. Eine Hommage an John Entwistle, der das genau so getan hatte. Und den Mantel habe ich genau so über meine Schultern gelegt, wie das Kit Lambert immer tat."

"Ich komme wieder nach Cork“, versprach Pete Townshend auf seiner Webseite in einem Eintrag seiner Memoiren-Diskussionsrunde. Und er hat Wort gehalten. Carrie Pratt, meine Webmasterin, wollte eine Konzertbesprechung für ihre Website Long Live Rock, aber ich bin kein Kritiker. Ich bin ein Geschichtenerzähler, vor allem von solchen Geschichten, die kein Ende finden und so lange brauchen, um auf den Punkt zu kommen, dass sie fast so sind wie in den frühen Siebzigern Petes ausufernde Erklärungen zwischen den Songs, was genau in Jimmys Kopf vorging, während Roger neben ihm versuchte diplomatisch zu bleiben und über die Bühne stakste wie ein ungeduldiger Löwe kurz vor dem Sprung.
The Who, heutzutage eine Hydra mit nur noch zwei Köpfen, eroberten Cork am Wochenende mit einer zweistündigen Meisterklasse in der Kunst des Rock’n’Roll, nach der das Geschrei nach Zugaben gar nicht mehr aufhören wollte.
Keith Moon und John Entwistle nehmen jetzt am großen Gig im Himmel teil, aber Sänger Roger Daltrey und Meister Townshend mit seiner Axt beherrschen immer noch die Magie und das musikalische Chaos ihrer epochalen Liveshows der späten Sechziger, frühen Siebziger – von Woodstock ’69 bis Leeds anno ’70.
Sie legten los mit „I Can’t Explain“, „The Seeker“, „Anyway, Anyhow, Anywhere“, während im Hintergrund Szenen aus Modfilmen der sechziger Jahre projiziert wurden, und sie eröffneten ihr Konto mit Fingerspitzengefühl und Raserei.
Nach dem fünften Song des zweistündigen Programms kam „Who Are You“, und alle waren aus dem Häuschen, als Daltreys übermenschlicher Gesang mit allem, was Townshend ausheckte, locker mithielt.
Der dreiundsechzigjährige Daltrey, der problemlos als halb so alt durchgehen könnte, hat stimmliche Fähigkeiten, die immer wieder verblüffen – trotz einiger Ausfälle wegen Bronchitis beim ersten Teil der Endless Wire-Tournee. In Stücken wie „Behind Blue Eyes“, „Real Good Looking Boy“ und der Auswahl aus Endless Wire, einschließlich des Titelstücks von diesem Album, überstrahlte Daltreys Können – manchmal nur begleitet von Townshend auf der akustischen Gitarre – sogar bei weitem die prächtige Lightshow und die Projektionen, die den Gig akzentuierten.
Und dann passierte es. Nachdem sie das Tempo zurückgefahren hatten, zeigten The Who, was es heißt, wenn einem das Publikum nicht nur aus der Hand frisst, sondern wie man es in einen Zustand delirierender Hingabe versetzt.
Das rappelige, flirrende Keyboard-Intro zu „Baba O’Riley“ war für das ausverkaufte Haus das Signal zum Ritt auf der Schaumkrone einer Rock’n’Roll-Flutwelle der Euphorie, mit der The Who den Laden aufmischten. Mit einer der besten Liveversionen von „My Generation“, die man sich vorstellen kann, und mit dem gleichermaßen großartigen „Won’t Get Fooled Again“ endete das Set, bei dem Townshends Bruder Simon an der Gitarre, Pino Palladino am Bass, John Bundrick an den Keyboards und Ringo Starrs Sohn Zak Starkey am Schlagzeug in jedem Song brillierten.
Bei den fünf Songs des Zugabenteils, darunter „Pinball Wizard“ und „See Me Feel Me“, mussten sie sich und uns nichts mehr beweisen, aber das hielt sie nicht davon ab, mit noch mehr rasender Energie zur Sache zu kommen. „Falls ihr denkt, wir sind laut, dann solltet ihr mal euch selbst von hier oben aus hören“, sagte Daltrey und erntete tosenden Applaus. „Und kümmert euch um euren Postboten“, witzelte er als Ehrenbezeugung für den pensionierten Postler Jack Lyons alias Irish Jack aus Cork, den langjährigen legendären Weggefährten der Who.
Meine „wundersame Reise“ („Amazing Journey“) begann im Februar 2007, als The Who eine Pressekonferenz veranstalteten, die im Internet weltweit übertragen wurde. Der Saal war voller Journalisten aus ganz Europa. Pete und Roger spielten ein paar Songs und nahmen dann Platz, um Fragen aus dem Publikum zu beantworten. Nach vier oder fünf Fragen wollte die Funkjournalistin Rose O’Neill von Roger wissen, ob er sich denn schon auf den Auftritt in Cork freue, wo The Who seit Mai 1966 nicht mehr gewesen waren (bis jetzt ist das die längste Lücke zwischen zwei Who-Terminen). Rogers Antwort überraschte alle und sorgte für Erheiterung: „Ich kann’s gar nicht erwarten, nach Cork zu kommen. Wir kennen den dortigen Postboten; er ist einer unserer treuesten Fans. Wir nennen ihn liebevoll Irish Jack, und er war schon in den Anfangstagen im Goldhawk Club in Shepherd’s Bush einer unserer besten Freunde.“ Dann fügte Pete hinzu: „Darf ich kurz auch was über Irish Jack sagen? Vor einigen Jahren betrieb er ein wenig Ahnenforschung und fand dabei heraus, dass mein Großvater Maurice in der Gillabbey Street in Cork geboren wurde – und das ist exakt dieselbe Straße, in der auch Irish Jack zur Welt kam.“
Monat für Monat verging, und meine Vorfreude darauf, dass The Who nach so langer Zeit nach Cork zurückkommen würden, wuchs immer mehr. In der Woche, in der das Konzert im Cork Marquee stattfinden sollte, rief mich der dritte Kanal des irischen Fernsehens an und fragte, ob ich für ein Interview zur Verfügung stünde, das noch am selben Abend um 17 Uhr 30 ausgestrahlt werden sollte. Noch am selben Abend? Es war elf Uhr vormittags, und das Kamerateam wollte mittags um zwölf vorbeikommen. Ich war allein daheim und beeilte mich, fürs Interview die Wohnung mit Who-Postern zu dekorieren. Ich kramte im Archiv, und das heißt: auf dem Dachboden, wo 25 Jahre alte Linoleumrollen, ein seit zehn Jahren nicht benutzter elektrischer Heizkörper (nur für den Fall, dass mal die Heizung versagen sollte), der Plastikchristbaum vom vergangenen Jahr und zwei Dutzend unberührter Weingläser eine friedliche Koexistenz neben einer Million Schachteln fristen, die die Geschichte der Who enthalten. Und dann stach mir was ins Auge: der rote HiFi-Plattenspieler mit dem sahnefarbenen Deckel, der auf der Startseite meiner Webseite und in meiner YouTube-Ecke zu sehen ist und den Ron Dovey freundlicherweise für mich zusammengebaut hat. Selten hatte ich so einen Gedankenblitz wie in dem Moment.
Ich baute den Plattenspieler in einer Ecke meines Zimmers auf, klappte den Deckel hoch und platzierte das Cover des Brunswick-Albums My Generation auf dem Plattenteller. Das ist wahrscheinlich das einzige Who-Album, das ich je gekauft habe, denn an jenem Dezemberfreitag konnte ich es einfach nicht erwarten, bis ich es am Montag von Kit Lambert oder Chris Stamp im Büro bekommen würde. Ich musste es fürs Wochenende haben. Und so zahlte ich im kleinen Plattenladen an der Ecke King Street Hammersmith bereitwillig siebzehn Schilling und sechs Pence von meinem Lohn – ich glaube, ich verdiente damals rund acht Pfund die Woche und musste davon auch die Miete für mein Apartment zahlen, und hin und wieder aß ich tatsächlich auch was. Aber ich musste einfach My Generation übers Wochenende haben, um vor meinem großen Spiegel die Windmühlenflügel zu üben – und zwar zu „Out On The Streets“, einem der besten Who-Songs, den Townshend jemals schrieb und den sie schändlicherweise nie ins Liveprogramm nahmen.
Als das Filmteam ankam und sah, dass ich das Zimmer vorbereitet hatte, waren sie beeindruckt. Und als sie den Plattenspieler sahen, lächelten sie staunend. Einer sagte: „Mein Dad hatte auch so einen.“ Ich führte den Einschaltmechanismus vor, und der Tonarm glitt wie von selbst über den Plattenteller, bis er über dem äußeren Rand der dicken schwarzen Vinylscheibe, die wie Quecksilber der Götter vom Himmel gekommen war, zum Halten kam und sich dann langsam hinabsenkte auf den sich drehenden Plattenteller, wo er mit sanfter Nachhilfe meines Fingers über den Rillen von „My Generation“ schwebte. Der Kameramann nahm das in Großaufnahme auf, und es war wie ein Live-Zaubertrick. Es gab Kratzer und Feedback, und ich hoffte auf niedrige akustische Impedanz. Alles sehr ungewöhnlich für einen Beitrag für die Fernsehnachrichten. Der Plattenspieler, der immer das am liebevollsten gehütete Möbelstück in unserem Haus gewesen war, gehörte meiner Schwiegermutter Mary Kent. Sie hatte ihn 1966 für ein paar Pfund gekauft. Ich hatte ihn ein paar Jahre vorher mal für Dave Marsh in Gang gesetzt, den Autor von Before I Get Old, der mir damals sagte, er habe My Generation noch nie in der glorreichen Monoversion gehört – obwohl man dieses Album einfach in Mono hören muss. Das war also der Dienstag, und es schien, als würde die gesamte Gemeinde Cork die Abendnachrichten um halb sechs auf TV3 angucken. Ruhm und ein netter Touch von Minimalismus zu guter Letzt.
In der Wochenmitte gab ich viele Radio- und Zeitungsinterviews. Einige Wochen vorher hatte ich einem Freund, Con Crowley, der ein Motorrollergeschäft hat, versprochen, dass ich bei einem Modtreffen am Abend vor dem großen Gig in Cork teilnehmen würde. Bei diesem Meeting überreichte man mir die schöne Messingfigur eines Mods, der im Parka auf einem Motorroller sitzt. Das war eine liebenswürdige Geste der Leute, die ich als treue Mitglieder der ersten Modgeneration in Cork in den späten Siebzigern kannte. Manchmal merke ich gar nicht, wie bekannt ich bin, und ich werde nie so recht warm damit.
Das erinnerte mich an eine Begebenheit einige Jahre früher, als einer meiner Freunde aus Cork an einem Softwareprojekt in Osaka arbeitete. Die übliche Arbeitsethik in Japan sieht vor, dass man für gutes Schaffen belohnt wird. Und deshalb hatte man meinem Freund für gewissenhafte Pflichterfüllung ein Wochenende in Tokyo spendiert. Er verbrachte einen Tag damit, die faszinierenden Sehenswürdigkeiten der Altstadt zu besichtigen. Irgendwann bemerkte er eine große Gruppe von jungen Tokyo-Mods, die auf einem Platz versammelt waren, enge italienische Anzüge trugen und ihr glattes schwarzes Haar in der Mitte gescheitelt hatten. Das machte ihn neugierig, und er näherte sich den jungen Männern, von denen einige hübsche Mädchen auf dem Sozius sitzen hatten, während andere die Kolben ihrer Motorroller knattern ließen und sich so vor jedem, der genug Interesse zeigte, in Positur warfen. Mein Freund kannte mich ziemlich gut und wusste von meinem Who-Background, und so schlich er sich an ein Grüppchen dieser jungen Japaner heran und tat so, als bewundere er ihre Roller. Dann fragte er einen: „Irish Jack? Schon mal was von Irish Jack gehört?“ Sie starrten ihn nur ausdruckslos an. „No Jack. No Jack.“ Ihm wurde klar, dass sie vermutlich dachten, er suche jemanden mit dem Namen Irish Jack. Da kam ein anderer Jüngling hinzu, der des Englischen besser mächtig war. Mein Freund fragte: „Irish Jack. Haben Sie jemals von Irish Jack gehört? Quadrophenia?“
Bei der bloßen Erwähnung von Quadrophenia erklang ein zustimmender Chor: „Ahhh, ja, QUADROPHENIA!!!“. Und dreißig Zeigefinger zeigten auf ihre Motorroller, und alle lächelten im entzückendsten japanischen Einvernehmen. Dann sagte mein Freund: „Genau, Irish Jack – Quadrophenia.“ Und der Jüngling mit dem passablen Englisch gab aufgeregt bekannt: „Irish Jack, er Mod King. MOD KING!!“ Mein Freund schüttelte ein halbes Dutzend Hände, und ein Japaner erzählte ihm, dass er an seiner Wand zuhause ein Bild von mir auf einem Motorroller habe. Er hatte es aus der schwedischen Tageszeitung Expressen ausgeschnitten, mit der ich einige Jahre früher ein Interview gemacht hatte. Als mir mein Freund später in Cork diese Geschichte erzählte, fühlte ich Freude und Stolz im Bauch und hatte das Gefühl, als würden meine Mutter mit ihren Händen die Schulter kneten, wie sie es immer tat, als ich jung war. MOD KING! Das klang in meinen Ohren wie ein himmlischer Gong. Die Story machte mich aufgekratzt. Nach einem weiteren Drink trennten wir uns. Ich ging in einer Art Dunstglocke nach Hause, doch dann verwehte dieses Ruhmesgefühl, und ich fühlte mich sehr traurig, fast schon melancholisch. Warum denn das, werdet ihr jetzt fragen. Ich fand es erstaunlich, dass ein junger Mod, der tausende von Meilen von meiner kleinen Stadt Cork entfernt lebte, ein Bild von mir an seiner Schlafzimmerwand hängen hatte. Quadrophenia, mein Kind, manchmal meine Mutter, das Thema, das mein Ego in ungeahnte Höhen gehoben hat und das mich am Ende untergehen lassen wird – so oder so werde ich nie davon loskommen; ich werde es für den Rest meines Lebens mit mir herumtragen wie den Rucksack eines Lieblingsonkels (Onkel Pete?). Ein Postbote in Cork, fotografiert auf der heißen Sechziger-Jahre-Lambretta eines Freundes, taucht in einem weit entfernten Land, in einer anderen Kultur, die sehr viel älter ist als meine eigene, an der Wand eines Modjugendlichen auf. Und ich werde diesen Jungen nie treffen, werde ihn nie kennen lernen, werde nie seinen Atem spüren.
Am Samstag stand ich für den großen Tag früh auf. The Who nach einundvierzig Jahren zurück in Cork – wer hätte das gedacht? Um diesen unmöglichen Traum auf seinen logischen Anfang zurückzuführen, stellen wir uns mal vor, wie Roger Daltrey am Sonntag, dem 8. Mai 1966, mit Pete Townshend die Bühne verlässt und wie er auf dem Weg zum kleinen Umkleideraum im Arcadia Ballroom (der, nebenbei bemerkt, am anderen Ende des Tanzsaals lag) so etwas sagt wie: „Wir werden hierher nach Cork in einundvierzig Jahren zurückkehren.“ Beängstigend, nicht wahr?
Es war ein seltsamer Samstag. Ich erledigte, was ich immer am Samstag erledige, holte mir den Guardian, traf meinen Freund George auf einen Kaffee, zwei Kaffees, drei Kaffees, zwei Gläser eisgekühlten Orangensaft – und obwohl die Versuchung groß war, mein vor zu viel Koffein klopfendes Herz (obwohl ich doch wirklich cool sein sollte) zu beruhigen, trank ich kein Murphy oder Guinness. Ich dachte: „Jetzt bin ich schon sechs Wochen lang nüchtern, warum soll ich damit aufhören?“ Petes Sekretärin Nicola Joss rief an, als ich gerade eine E-Mail schrieb. Die Pässe für die ganze Familien seien schon für mich hinterlegt. Was trieb ich sonst noch so? Ich machte mir Sorgen, dass die Band nicht gut in Form sein könnte. Womöglich würden sie eine schlechte Kritik bekommen. Ich fürchtete, dass Rogers Stimme versagen würde. The Who würden nie wieder nach Cork kommen, das wusste ich, und deshalb würde es keine zweite Chance geben. Seit 1968 habe ich allen in den Ohren gelegen, Busschaffnern, Busfahrern, Schneidern, Anwaltsgehilfen, Gerüstebauern, Fernsehmechanikern, Näherinnen, Barmännern, Postboten, Bedienungen und hübschen Physiotherapeutinnen, die mein Handgelenk bearbeiteten, dass The WHO die einzige Band sind, „auf die es wirklich ankommt“.
Irgendwann an diesem nicht ganz normalen Samstag wurde mir plötzlich klar, dass meine Zeit gekommen war. Cork wimmelte von Besuchern, die am Abend ins Marquee wollten. Ich sah Väter von auswärts mit Söhnen und Töchtern in ihren Who-T-Shirts; Mütter, die so aussahen, als hätten sie in den Siebzigern einige grandiose Shows gesehen, während sie ihre in Who-Klamotten gekleidete Kids entlang der Hauptstraße bugsierten. Überall lag es unverkennbar in der Luft, dass sich später etwas ereignen würde. Ich ging in einige Läden, um Geschenke einzukaufen, aber ich war nicht recht bei der Sache. Auf der Straße grüßte ich viele Freunde, die mit wissendem Lächeln reagierten. Manche riefen mir zu: „Viel Glück heut’ Abend!“ Glück? Jesses, ich musste doch nicht spielen. Aber sie hatten schon irgendwie recht. Während ich im Long Valley, meiner üblichen Bar am Samstag, saß und in meinem eisgekühlten Orangensaft rührte, bemerkte mein Freund George lächelnd, ich sei wohl schon ganz woanders. Und so wurde ich immer wieder auf unterschiedliche Art auf das Thema angesprochen. Bis ich keine Lust mehr hatte, in der Stadt rumzuhängen. Ich war zu unruhig. Ich wollte lieber zu Hause sein, wo ich mich mit meinem schlechten Spiel auf der akustischen Gitarre entspannen konnte. Und das tat ich dann auch.
Bald war es Zeit, zum Quality Hotel zu gehen, um den Rest der Familie zu treffen und auf unseren Minibus zu warten. Wie immer hatte meine Frau Maura ihre Garderobe, die vollgestopft ist mit Kleidung, geöffnet und erklärt, sie habe absolut nichts zum Anziehen. Sie rief meine Tochter Karen an, und zwischen Mutter und Tochter entspann sich eine lange Konversation über die Vor- und Nachteile eines tiefen Dekolletés oder eines schwarzen Rollkragenpullovers. Ich dachte: „Wenn dieses Gespräch noch länger dauert, werden wir es grad noch zu den Zugaben schaffen.“ Also sagte ich, ich wolle schon mal vorgehen, um im Hotel unsere kleine Gruppe zu treffen; die Modeexpertinnen könnten dann ja nachfolgen. Ich rief ein Taxi, das mich zum Quality brachte. Wolfy und Amanda waren schon da, zusammen mit dem wahren Star der Show, meinem alten Freund von den Detours, jenem Mann, den ich im Sommer 1962 kennen gelernt hatte: Doug Sandom. Der silberhaarige, elegante, fünfundsiebzigjährige geniale Schlagzeuger aus der Bollo Bridge Road in Acton. Er war von London mit Wolfy und Amanda, zweien der bestangezogenen Londoner Mods, eingeflogen. Mick Kenny, ein Freund, der im Postamt von Dublin arbeitet und am Samstagnachmittag eine Radioshow macht, war auch schon da, um mich und meine Familie zu begrüßen. Auch Con Crowley war dabei, der Wort gehalten und mich in der Nacht davor nach Hause gefahren hatte. Er hatte sechs oder sieben Motorroller organisiert, die unseren Minibus auf dem Weg zum Marquee eskortieren sollten. Unser Fahrer Alan McGregor konnte es kaum glauben. Er sagte, er habe zwar schon viele Fahraufträge gehabt, aber so etwas habe er noch nie erlebt: „Und wie heißt der Mann noch mal? Doug Sandom? Und er war Schlagzeuger der Who?“ Jesus Christus Allmächtiger: The WHO!!“ Maura und ich posierten für ein Foto mit den Motorrollern auf dem Vorplatz des Hotels, bevor wir alle dreizehn in den Minibus sprangen.
Wir kamen am Marquee mit Verspätung an und holten unsere Pässe ab, bevor wir in den Backstagebereich fuhren. Dort erwartete uns Nicola Joss, und die nächste Stunde verging mit vielen Umarmungen, vielen Komplimenten und noch mehr Umarmungen. Maura und ich überreichten Roger in einem ungestörten Moment eine Flasche Rotwein und eine Schachtel mit Teebeuteln der Marke „PG Tips“, die mir einer der Motorrollerfahrer, Dublin James, für ihn mitgegeben hatte. Umarmungen mit Bob Pridden, dem Zauberer an den Knöpfen, mit Simon und Rabbit (der sich nach dem Verlust seiner allerliebsten Sue wacker hielt), mit Pino, dem Riesen aus Cardiff, und mit Zak, der sich immer über meine Anwesenheit freut. Ich schenkte Rex ein gerahmtes Foto seiner Lieblingsfußballmannschaft Manchester United – eine seltene Aufnahme der Busby Babes, die kurz vor dem Flugzeugabsturz 1958 in München aufgenommen worden war, bei dem sieben von ihnen umkamen. Es war jetzt bald Zeit rauszugehen in die Halle, wo außer Maura, meiner Tochter Karen, die damals fünf Jahre alt gewesen war, und meinem Bruder Patrick noch niemand die Who live spielen gesehen hatte. Dies war der Moment. Atme ich aus, oder atme ich ein? Ich weiß, dass mein Herz wild pumpte. Und da erschien wie aus dem Nichts – nun ja, er kam aus seinem Deluxe-Trailer – Pete und schlenderte mit seinen weisen alten Augen und seinem adretten Ho-Chi-Minh-Bärtchen zu uns herüber. Er sah mich – und ging geradewegs auf die Frau zu, die mich ertragen muss, um sie auf die Lippen zu küssen und wild zu umarmen. Da ist er also, Pete, und er ist ganz der Alte. Wir haben uns umarmt (Bäume umarmt?) seit den Tagen des Goldhawk, und es ist immer die Wärme eines guten alten Freundes gewesen, eines Mannes, den ich gleichwohl öfter als einmal verärgert habe. Eine Umarmung wie der Griff nach dem Leben, wie ein Baby deine Finger ergreift. Und dann legten The Who los. Er war mir eine Freude, den Ausdruck schieren Erstaunens auf den Gesichtern meiner Familie zu beobachten, dass jemand mit solcher Kraft spielen konnte …
Ich knuddelte meinen elfjährigen Enkel und wollte ihn gar nicht mehr loslassen, während ich der Band zusah. Meine zwei Söhne Anthony und Keith und meine Tochter Karen schauten mich nur an, grinsten und schüttelten ungläubig den Kopf – das war mein Auftritt. Nein, er war’s doch nicht. Mein Moment sollte erst noch kommen. Am Anfang von „Real Good Looking Boy“ sah man auf den Videoscreens den jungen Elvis beim Hüftschwung, wie er ihn bei den Volksfesten auf dem Land und bei den Agrarshows in Louisiana pflegte, während die Mädchen am Bühnenrand seine schwarzen und weißen Schuhe berührten. Das war toller Stoff. Ein atemloser Pete griff sich das Mikro und sagte: „Dieser Song, ,Real Good Looking Boy‘, handelt offensichtlich nicht von Jack Lyons!“ Großer Beifall. Aaah, das war jetzt mein Moment. Nein, doch noch nicht. Aber später dann, zwischen „Baba O’Riley“ und „Drowned“, hielt Pete wieder eine kleine Ansprache, und zwar über „Irish Jack – Jack Lyons, der herausgefunden hat, dass mein Großvater Maurice Michael Dennis in der Gillabey Street geboren wurde, in derselben Straße, in der auch Jack zur Welt kam“.
Mir kamen die Tränen, als Pete fortfuhr und erwähnte, welchen Einfluss ich auf sein Schreiben hatte. Ich erinnere mich nicht genau an alles, was er sagte, aber ich weiß, dass alles blitzartig geschah. Leute, die ich nicht einmal kannte, klopften mir anerkennend auf den Rücken.
Ich erinnere mich, dass ich meine Frau Maura in den Arm nahm und ihr dankte, dass sie nicht nur mich, sondern auch The Who geheiratet hatte. Nach „Tea & Theatre“ verließen Roger und Pete die Bühne, und Roger sagte noch irgendwas wie: „Gute Nacht, vergelt’s Gott, und vergesst nicht, euch um euren Postboten zu kümmern!“
Wie abgesprochen wurde ich in Petes Trailer eingeladen. Er bot mir Tee an, aber ich wollte keinen. Die paar Jahre, die wir uns nicht gesehen hatten, waren schnell vergessen. Ich übereichte ihm sein Geschenk und erlaubte ihm großzügig, die Verpackung zu öffnen. Er grinste breit, als er das Buch Michael Collins von Tim Pat Coogan sah, das Maura und ich mit einer Widmung versehen hatten. Wer online Petes anfangs erwähnten Diskussionsstrang „I’m Coming Back To Cork“ gelesen hat, mag sich erinnern, dass Michael Collins ein irischer Freiheitskämpfer aus Clonakilty in Cork war, der als junger Mann nach London emigrierte, wo er in West Kensington zusammen mit seiner Schwester Hannie hinter dem Schalter des Postamts arbeitete. Petes Urgroßmutter mütterlicherseits, Ellen Dennis, die Petes Mutter Betty und deren Bruder Jack aufgezogen hatte, war eine entfernte Cousine von Michael Collins gewesen und während des irischen Bürgerkriegs mehrmals still und heimlich nach London gefahren, um Geld zu sammeln. Collins geriet am 22. August 1922 in Beal na mBlath, Cork, in einen Hinterhalt und wurde erschossen. Durch eine seltsame Marotte des Schicksals lebte mein Cousin Joey – dem ich es verdanke, dass ich 1962 meine erste Liveband (die Detours) bei einem Tanzabend im Boseleys in Shepherd’s Bush erleben konnte – mit seiner Frau Sheila Lamb in der Masbro Road gleich um die Ecke von jenem Postamt in West Kensington, und Sheila arbeitete hinter demselben Schalter wie damals Michael Collins, viele Jahre später natürlich. Und während Collins im Postamt beschäftigt war und dabei seinen politischen Zielen nachging, wohnte er in der Nähe in der Netherwood Road 5, in West Kensington – direkt um die Ecke, wo Bob und Mia Priddens Kinder Luca und Ben eine Zeitlang gewohnt hatten.
In seinem Trailer redete ich mit Pete über Colin Dexter, den Verfasser der Inspektor-Morse-Bücher, deren Fan ich bin. Ich erzählte ihm, dass ich Colin Dexter vor einigen Jahren im Dew Drop Inn in der Banbury Road in Oxford getroffen hatte – nach einer Lesung für die Debattiergesellschaft Oxford Union. Er war echt amüsiert und fasziniert, dass jemand wie ich sich hinter ein Lesepult stellte und dem Publikum im William-Morris-Saal erzählte, wie er als Original-Mod aus Shepherd’s Bush zur zentralen Figur eines Albums wurde und mit einer Rockband aufwuchs. Dexter schien dieses Phänomen schließlich bewältigt zu haben und fragte dann höflich mit seiner kultivierten Stimme: „Das ist ja sehr interessant. Aber was ist mit diesen anderen Bands, diesen Rolling Stones und The Led …?“
„Sie meinen Led Zeppelin?“, fragte ich.
„Ja, genau. Haben die denn einen Leser?“
„Ach nein“, antwortete ich, „nur eine Band wie The Who haben einen.“
Und ich sah in seinen Augen einen wissenden Schimmer, wie ihn alle großen Schriftsteller erkennen lassen, falls man Glück hat.
„Aha“, meinte er mit einer gewissen Belustigung in der Stimme, „nur The Who.“
Pete und ich redeten noch eine Weile über Colin Dexter. Ich erinnerte mich, dass Emma Townshend in einem Artikel im Independent erwähnt hatte, dass sie oft mit ihrem Vater zusammen die Filme mit Inspektor Morse angeschaut und versucht hatte, die Fälle zu lösen. Wie erstaunlich. Ich erzählte Pete, dass ich mein Lieblingswort aus einem Inspektor-Morse-Buch hatte: sesquipedalian. Es bezeichnet den überflüssigen Gebrauch eines langen Wortes (deutsche Übersetzung in etwa: schwülstig). Und Townshends Augen glänzten und lachten, als ich ihm das erzählte.
Zeit, die Familie zu treffen. Die nächsten fünfzehn Minuten vergingen, während Pete von der Fotografenmeute praktisch aus allen Blickwinkeln geknipst wurde, während der Aufpasser Mark ein wachsames Auge aufs Geschehen hatte. Die Fotos waren alle geschossen … fast alle … Pete wollte gerade zurück in seinen Trailer, als meine Frau Maura rief: „Jackie, stell dich doch mal für ein Foto neben Pete.“
Jackie. Pete schaute mich grinsend an, und im Nu verstand er meine persönliche Geschichte. Jackie – so hatte mich meine Mutter in Irland immer genannt. Und dieser blöde Mädchenname hatte mich noch in London verfolgt, als ich in Shepherd’s Bush aufwuchs. Mein Untergang. Dr. Jackie & Mister Jack! Diesen Namen wollte ich austreiben. Dieser Name führte dazu, dass ich 1962 die Tanzfläche im Boseleys überquerte, um einem großen, schlaksigen, glatthaarigen Burschen mit einer Nase wie eine Maurerkelle, der wahrscheinlich sogar eine Freundin hatte und der sich eine riesige akustische Gitarre mit einem Riemen um den Nacken gehängt hatte, die Hand zu schütteln: „Hallo, ich bin Jack aus Shepherd’s Bush.“
„Hallo, Jack aus Shepherd’s Bush. Ich bin Pete aus Ealing.“
Fing so nicht alles vor fünfundvierzig Jahren für mich an?
Und so endet meine Reise.

Copyright 2008 Irish Jack Lyons.
Deutsche Übersetzung von Manfred Gillig-Degrave.
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Weitere Informationen unter http://www.thewho.net/irishjack