Die Interviews für Maximum Rock

Christoph Geisselhart, Künstler und Autor, hat für seine Biografie über die britische Rockgruppe The Who Augenzeugen, Musiker, Freunde und Geschäftspartner der Band befragt - darunter natürlich vor allem Pete Townshend, den damals 64-jährigen Schöpfer der großen Who-Hits; aber auch Simon Phillips, Who-Schlagzeuger zwischen 1989 bis 2000; Godfrey Townsend, einst glühender Who-Fan in New York und später Mitglied der Band des Who-Bassisten John Entwistle; Shel Talmy, Produzent der frühen Who-Platten, oder Irish Jack Lyons, der als ältester Fan der Gruppe im Mod-Opus Quadrophenia sogar Teil des Werks wurde. Auszüge aus diesen Interviews und Hintergrund-Stories werden hier veröffentlicht.

"Entwistles Spieltechnik" von Oliver Baumann

Oliver Baumann ist Bassist und Gründer der deutschen Who-Coverband WhoAreYou. Zudem spielt er bei der Progressive Rockband Martigan und verfasst Artikel in Musikfachzeitschriften. Sein großes Vorbild war und ist Who-Bassist John Entwistle, dessen Stil er ausgiebig studiert und adaptiert hat. „John war ein sehr netter Mensch, den ich zwei Mal auf der Musikmesse in Frankfurt persönlich getroffen habe“, erinnert sich Oliver. In seinem Beitrag erklärt er die Geheimnisse der Spieltechnik und des Sounds von Who-Bassist Entwistle.

John Entwistle, der Bass Player of the Millenium, besaß eine einzigartige Spieltechnik, die zahllose Musiker beeinflusste. Sein Stil hat das Spiel auf dem Bass ähnlich revolutioniert, wie Anfang der 50er Jahre der E-Bass an sich die Musikwelt revolutionierte. John bestand immer darauf, nicht Bassist, sondern Bassgitarrist zu sein. Die Erklärung für dieses Selbstverständnis lautet ganz einfach: Aufgrund eines fehlenden Leadgitarristen hatte er von Anfang an bei den Who die Rolle eines Leadbassisten besetzt, der die fantastische Rhytmusarbeit von Townshend mit Läufen und Fills ergänzte, was damals fernab vom normalen Bassistenspiel lag.
Sein Grundsound resultierte aus einer speziellen Spieltechnik. Nicht nur die Greifhand, sondern im speziellen die rechte Hand trugen maßgeblich zu seinem Sound bei. Entwistle konnte diesen Sound mit jedem Equipment, jedem Amp und jedem Bass reproduzieren. Dennoch gab es verschiedene Phasen, in denen sich sein Sound grundlegend verändert hatte - sicherlich meist aufgrund des Equipments, das in den Anfangsjahren der Who noch nicht so viel möglich machte.
Viele Bassisten behaupten, dass John einen harten Anschlag hatte und mit viel Kraft spielte. Dies stimmt keinesfalls. John spielte mit einer äusserst niedrigen Saitenlage. Für gewöhnlich kommen Bassisten mit einer solchen Saitenlage nicht zurecht. Es scheppert und schnarrt überall, aber dies war Bestandteil seines Sounds. Ich habe mir Johns Technik in zweijähriger Arbeit angeeignet, sicherlich nicht zu einhundert Prozent, was schon aufgrund des menschlichen Faktors unmöglich ist; aber dem Original bin ich doch schon recht nahe. Meine Saitenlage beträgt im Moment am 24. Bund, tiefe E-Saite, offen – sprich: von der Oberkante des Bundstäbchen bis zur Unterkante der frei schwingenden Saite – nicht mehr als 0,8 mm. Dies ist äusserst wenig; selbst Gitarristen kommen teilweise mit dieser niedrigen Saitenlage nicht mehr zurecht. Aber John sagte immer: „Ich hätte meine Saiten am liebsten hinter dem Griffbrett.“
Susan Wickersham, Chefin der Firma Alembic, die Johns berühmte Spiderbässe angefertigt hatte, erzählte mir, dass bei den ersten Bässen, die für John gemacht wurden, alles nur so schepperte und schnarrte, dass man schon befürchtete, hiermit sei die Beziehung zu John vorbei. Aber weit gefehlt, denn genau dies war, was John gesucht hatte.
Der zweite wichtige Aspekt von Johns Sounds war seine Anschlagtechnik, mit der er seinen speziellen Pianosound kreierte. Das Geheimnis besteht darin, dass die Saiten nur ganz leicht angeschlagen werden dürfen - und der Finger sogleich wieder von der Saite weg muß. Die Saite muß unbedingt in eine vertikale Schwingungsbewegung versetzt werden, ähnlich wie beim später entwickelten Slap-Stil, aber viel viel kontrollierter und feinfühliger. Selbst beim normalen Fingerspiel hat John die Saiten eher vertikal angeschlagen. Die meisten Bassisten hingegen zupfen in einer horizontalen Richtung. Erst die vertikale Ausrichtung der Saiten produziert diesen phantastischen Pianosound, einen stählernen Sound mit grandiosen Obertönen.
Ausserdem hat John viel mit offenen Saiten gespielt. Dies ist bei Musikern eigentlich verpönt wegen der angeblichen Laustärkedifferenz zwischen offenen und gegriffenen Saiten; aber für John war dies ein maßgeblicher Aspekt, um die teilweise recht komplexen und schnellen Läufe bewältigen zu können.
Sein Basssound hat sich über die Jahre hinweg zwar durchaus verändert, aber dies vor allem wegen des Equipments und der Technik. John hatte in den frühen Jahren immer das Problem, dass er mit dem damaligen Equipment zu wenig Höhen produzieren konnte. Röhrenamps in Verbindung mit Fender Precision Bässen oder Gibson Thunderbird Bässen, noch dazu verzerrt, ergaben zwar einen monströsen Sound, aber die gewünschten Höhen, um sich im Gesamtsound besser durchsetzen zu können, fehlten Erst mit den Alembic Bässen von 1975 kam der nächste Schritt. Die Alembic Bässe, Highend Bässe aus den USA, haben von Natur aus einen sehr höhenreichen HiFi-Sound. Äusserst clean, sehr höhenreich. Die ideale Basis, um ein cleanes Signal über den weiteren Signalweg zu ziehen. John spielte in dieser Zeit die Alembic Bässe über je zwei deutsche Stramp Preamps in 4 Sunn Poweramps. Die Alembic Bässe waren Stereop, so dass die Signale einmal in einen Preamp mit zwei Outputs in je zwei Poweramps gingen. Auf diese Weise wurden erstmals die tiefen und die hohen Frequenzen geteilt, und John konnte in den hohen Frequenzen das Signal stärker verzerren. Außerdem blieben die Tiefen cleaner und behielten ihr Fundament, das sonst bei Verzerrung stark verloren geht.
Das Problem bei den Älembic Bässen war und ist ihr empfindlicher Hals. Obwohl sie mit zwei Stahlstäben ausgerüstet sind, verziehen sich die Hälse permanent. Auch ich hatte und habe mit meinen Alembics dieses Problem, das bei einer so niedrigen Saitenlage natürlich noch extremer ins Gewicht fällt und speziell live sehr nervig ist. Da John viel und gern auf Tour war, ist absolut nachvollziehbar, dass er irgendwann genug davon hatte.
Mit dem Wechsel zu Warwick veränderte sich dieses Problem allerdings nicht merklich, dies erklärt auch, warum er Warwick bat, mit Hilfe der amerikanischen Firma Modulus Buzzards mit Graphithälsen zu bauen. Ende der Story war dann der Wechsel zu Instrumenten, die komplett aus aus Carbon gefertigt wurden.
Je weiter sich die Technik entwickelte, desto extremer wurde Johns Sound – bis hin zu einem buchstäblichen Bass-Gitarristen, was man anhand der Auftritte der John Entwistle Band der letzten Jahre erkennen kann. Auch damals war das Signal noch immer getrennt, mittels Ashdown Preamps, die in mehrere Ashdown-Poweramps führten. In die Höhen hat John immer mehr Gitarreneffektgeräte eingeschliffen, um die teils brutale Verzerrung dort überhaupt darstellen zu können, ohne den Druck in den Tiefen und in den Mittentönen zu verlieren.
Insgesamt betrachtet ist Johns Spieltechnik ein Kunstwerk, das bis heute unerreicht ist.

Copyright 2008 Oliver Baumann.
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