Die Interviews für Maximum Rock

Christoph Geisselhart, Künstler und Autor, hat für seine Biografie über die britische Rockgruppe The Who Augenzeugen, Musiker, Freunde und Geschäftspartner der Band befragt - darunter natürlich vor allem Pete Townshend, den damals 64-jährigen Schöpfer der großen Who-Hits; aber auch Simon Phillips, Who-Schlagzeuger zwischen 1989 bis 2000; Godfrey Townsend, einst glühender Who-Fan in New York und später Mitglied der Band des Who-Bassisten John Entwistle; Shel Talmy, Produzent der frühen Who-Platten, oder Irish Jack Lyons, der als ältester Fan der Gruppe im Mod-Opus Quadrophenia sogar Teil des Werks wurde. Auszüge aus diesen Interviews und Hintergrund-Stories werden hier veröffentlicht.

Interview mit Shel Talmy

Der Plattenproduzent Shel Talmy, geboren 1941 in Chicago, verließ im Zuge der britischen Rockinvasion 1962 die USA in Richtung London, um dort nach einer Band zu suchen, die er nach seinen Erfahrungen in kalifornischen Tonstudios formen und groß herausbringen konnte. Trotz seiner starken Sehbehinderung setzte er sich im Swinging London schnell durch. Für Decca produzierte er zunächst die Kinks, deren Hit „You Really Got Me“ den jungen Who-Komponisten Pete Townshend damals eingestandenermaßen zu eigenen Versuchen inspirierte. Als Talmy das erste ähnlich klingende Demo von „I Can’t Explain“ hörte, erkannte er das Potential von The Who und nahm die Band mit ihrem noch unerfahrenden Management unter Vertrag. Die für The Who ungünstigen Konditionen sorgten bald nach der Aufnahme des Welthits „My Generation“ für einen heftigen Rechtsstreit, der The Who viele Jahre lang belastete und der erst im Jahr 2002 abschließend beigelegt wurde, als Shel Talmy die Masterbänder der frühen Who-Hits für einen Remix des Debütalbums „My Generation“ freigab. In den hier veröffentlichten Auszügen nimmt Shel freimütig Stellung zu vielen Vorwürfen, die seitens des Who-Lagers gegen ihn erhoben wurden. Der Kontakt zu Shel kam über das englische Who-Forum zustande – thanks, Ziggy!

Christoph Geisselhart: Shel, vielen Dank für deine Bereitschaft, deine Erinnerungen an die frühen Who-Jahre mit uns zu teilen und meine Fragen zu beantworten. Hier gleich die erste: Pete hat im Verlauf eurer rechtlichen Streitigkeiten einmal gesagt, dass die meiste Arbeit im Studio damals sowieso von Glyn Johns, dem Toningenieur, gemacht worden ist. Wie würdest du die Rollenverteilung und Verantwortung zwischen dir als Produzent und Glyn als Tontechniker während der Aufnahmen und beim Abmischen beschreiben?
Shel Talmy: Glyn war mein Tontechniker, den ich ausgesucht hatte, weil er verflucht gut war und es mir erlaubte, mich auf die Produktion zu konzentrieren, ohne mit dem Tontechniker während der Aufnahmen Händchen zu halten. Ich bin selbst ein ausgebildeter Tontechniker und mischte Vieles selbst ab. Pete war bei den meisten Abmischsessions nicht dabei.

Du hast einmal die Behauptung aufgestellt, dass die von dir produzierten Who-Songs viel besser klingen würden, als jene, die später Kit Lambert produzierte, obwohl er viel länger im Studio gebraucht habe. Deine Aufnahmen klingen tatsächlich besser! Kannst du den Grund dafür aus technischer Sicht auf solche Weise erklären, dass wir als Laien das nachvollziehen können, warum deine frühen Who-Produktionen selbst heute noch so verdammt gut klingen?
Shel: Ich kann deine Frage nur mit einer Gegenfrage beantworten. Wie kannst du jemandem, der nicht mit dem Ohren wackeln kann, beibringen, wie man mit den Ohren wackelt? Das ist letztlich eine Frage des „Talents“ – so wie ein besonders veranlagter Mensch etwas auf eine Weise hört, das kein anderer zu hören vermag. Und wenn du dann diese Fähigkeit der Kommunikation noch vermitteln kannst; wenn du also das, was du von einem Künstler hörst schließlich in einer fertige Aufnahme bringen kannst, dann hast du etwas sehr Besonderes. In diesem Fall trifft das Publikum die Entscheidung, dass das, was sie hören, genau das ist, was sie hören wollen und wie gut es im Vergleich mit dem ist, was alle anderen machen.

Wie bist du eigentlich auf The Who gestoßen? Es heißt immer, dass Mike Shaw, Mitarbeiter von Kit Lambert und Chris Stamp, dir am Telefon die ersten rohen Aufnahmen von „I Cant Explain“ vorgespielt habe, woraufhin du zu einer Who-Probe in einer ehemaligen Kirche gekommen sein sollst. Was stimmt an diesen Geschichten?
Shel: Ich hatte eine Teilzeitmitarbeiterin namens Anya Butler, sie war eine Bekannte meiner Exfrau, die damals, wenn ich mich nicht täusche, noch den Status meiner Freundin einnahm. Sie kannte auch Lambert, der sie bat, mich dazu zu bewegen, zu einer Who-Probe zu kommen.

Anya hat auch lange für Lambert gearbeitet – wusstest du das?
Shel: Wenn sie auch für ihn gearbeitet hat, kann ich mich daran nicht erinnern, und so lange du kein Zauberlehrling bist, der Geister am Hexenbrett beschwören kann, werden wir das vermutlich nie herausfinden, obwohl Anya noch unter uns weilt, falls du sie finden kannst. Und was Mike Shaw betrifft: Er hört nicht auf, diese Geschichte zu erzählen, und ich habe keine Erinnerung daran, dass er mich je angerufen hat und mir „I Can’t Explain“ am Telefon vorspielte. Aber ich räume ein, dass es so gewesen sein könnte. Das Demo, das ich gehört habe, wurde jedenfalls in meinem Büro abgespielt. Es war ungefähr eine Minute und zehn Sekunden lang. Daraufhin begab ich mich runter zum Gemeindesaal der Kirche zu Anya.

Anya arbeitete tatsächlich für Lambert. Leute wie Irish Jack oder Barnes bezeugen ihre Anwesenheit in Lamberts sogenanntem Heimbüro, und Stamp, Pete, Roger und sie selbst berichten, dass sie an diesem Ort zeitweise sogar wohnte. Das letzte, was ich von ihr hörte, war, dass sie in Lamberts verlassenem Palazzo in Venedig gelebt habe, bis der 1979 verkauft wurde. – Dein Verhältnis mit Kit Lambert wird meist als ziemlich schlecht beschrieben. Was war der Auslöser für eure Differenzen? War es einfach nur eine „natürliche“ Antipathie von Anfang an, oder gab es einen besonderen Vorfall – noch vor den rechtlichen Auseinandersetzungen? Oder würdest du sagen, es gab überhaupt keine Probleme, bevor die Who beschlossen, den Vertrag mit dir zu brechen?
Shel: Ich glaube, ich habe ja schon im öffentlichen Forum gesagt, dass ich die Who für die beste Rockband hielt, die ich je in England gesehen hatte, kaum dass ich ihnen acht Takte zugehört hatte. Was die Plattenaufnahmen betraf, kam ich nie mit Roger zurecht. Aber das ging damals fast jedem so, keiner kam mit ihm klar, und er wurde für eine Zeitlang aus der Band geworfen. Ich hielt mich aus all dem raus. – Und wegen der Platten war es auch, dass ich Lambert für eins der abscheulichsten Stücke Scheiße hielt, denen zu begegnen ich jemals das Unvergnügen hatte. Ich verurteilte ihn dafür, dass er junge leicht zu beeindruckende Burschen anbaggerte, und der Grund dafür, dass er meinen Vertrag zu brechen versuchte, war für ihn, dass er glaubte, ich habe zu viel Einfluss auf „seine boys“ bekommen. Offensichtlich gelang es ihm, sie zu überzeugen, dass sie mit ihm weitergehen sollten, was damals allerdings nicht sonderlich schwierig war gegenüber einem Haufen Teenager, die nur Musik machen, trinken und Mädels aufreißen wollten, und zwar nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Und ja, es ist wahr, ich habe Lambert aus dem Studio geschmissen, als er Unruhe stiften wollte und noch unangenehmer wurde als üblich. Um auf deine Frage zurückzukommen: Ich nehme an, alles hing davon ab, in wie weit ich mich im Interesse der Band dazu zwingen konnte, mit diesem Scheißkerl zurecht zu kommen. Ich hielt seinen Tod immer für „verdächtig“ und glaube, dass ihn jemand zusammenschlug, weil er eine verkommene, fiese Schwuchtel war. Ich hoffe, das schockt dich nicht, und wenn doch: Nun, so ist das Showgeschäft.

Das schockt mich nicht, aber wenn wir gerade beim Geschäft sind: Wenn ich heute eine Who-Platte oder -CD kaufe, die Shel Talmy produziert hat – wie werden da die Erlöse geteilt? Profitierst du immer noch von Who-Platten?
Shel: Ja.

Welche Masterbänder hast du im Jahr 2002 über ebay angeboten und warum? Stimmt die genannte Summe von 500.000 Dollar für das Angebot?
Shel: Ich bot alle Bänder an, und die halbe Million ist korrekt. Es war natürlich ein Trick, um die Aufmerksamkeit von MCA zu erregen. Anscheinend hat es gewirkt …

Chris Charlesworth berichtete, dass du mit David Schwartz über die Bänder verhandelt haben sollst. Wann war das? Die Erzählung erweckt den Eindruck, man habe dich hereingelegt oder übervorteilt. Kannst du den Verlauf der Verhandlungen aus deiner Sicht beschreiben?
Shel: Ich fürchte, da hast du die falschen Informationen oder Chris Charlesworth hat was falsch verstanden. Ich habe niemals mit David Schwartz über irgend etwas verhandelt. Ich habe einmal mit ihm zu Mittag gegessen, da er ein Who-Sammler ist, und wir hatten ein interessantes Gespräch, er ist ein heller Kopf. Und er hat mich nicht einmal mit den Kosten fürs Mittagessen hereingelegt, nachdem wir uns die Rechnung teilten.

Wer hat die Masterbänder schließlich gekauft und für welchen Preis? Ist der von Chris Charlesworth genannte Betrag zwischen fünfzig- und hunderttausend Dollar korrekt?
Shel: MCA kaufte die Bänder, und der Verkaufspreis ist Privatsache.

Copyright 2007 Christoph Geisselhart und Shel Talmy.
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