Die Interviews für Maximum Rock

Christoph Geisselhart, Künstler und Autor, hat für seine Biografie über die britische Rockgruppe The Who Augenzeugen, Musiker, Freunde und Geschäftspartner der Band befragt - darunter natürlich vor allem Pete Townshend, den damals 64-jährigen Schöpfer der großen Who-Hits; aber auch Simon Phillips, Who-Schlagzeuger zwischen 1989 bis 2000; Godfrey Townsend, einst glühender Who-Fan in New York und später Mitglied der Band des Who-Bassisten John Entwistle; Shel Talmy, Produzent der frühen Who-Platten, oder Irish Jack Lyons, der als ältester Fan der Gruppe im Mod-Opus Quadrophenia sogar Teil des Werks wurde. Auszüge aus diesen Interviews und Hintergrund-Stories werden hier veröffentlicht.

Interview mit Pete Townshend

Anfang 2009 wurde ein ausführliches Interview mit Pete Townshend möglich, dem damals 64-jährigen Schöpfer der unsterblichen Zeilen „Hope I die before I get old“ (My Generation). Ich hatte schon früher Kontakt zu Pete gesucht und ihm Fotos eines überlebensgroßen Who-Gemäldes geschickt, das ich einige Jahre zuvor mit meinem Künstlerpartner Rolf Sieber erstellt hatte. Zu meiner großen Freude schickte Pete an Weihnachten 2008 drei Fotoabzüge des Gemäldes mit Widmung zurück - ein großes Geschenk, denn Pete gilt als kritischer Kunstkenner, der Komplimente nicht leichtfertig verteilt.
In unserem Interview äußert sich Pete vor allem zu komplexen Themen wie Lifehouse, Gott und Spiritualität, über autodestruktive Kunst und das Musikbusiness, über die Disziplin des Komponierens und die Erfindung seiner Musikkompositionssoftware, dem das letzte Who-Album folgte, Endless Wire (2006); denn es ging mir vor allem darum, seine Einstellung und Sichtweise auf weniger bekannte Aspekte zu erkunden. Natürlich sprach er auch über The Who und Roger Daltrey, seinen Partner im bald fünfzigjährigen Ringen um „eine Musik, die die Zuhörer dem Himmel näher bringt“. Große Musik, so der inzwischen halb taube, aber auf der Bühne unverdrossen energiegeladene Rockkomponist, setze manchmal die Kombination von Absurdität und Arroganz eines Genies voraus: „Schaut euch doch bloß mal Wagner an“.
Hier einige Auszüge aus dem insgesamt elfseitigen Interview, das im dritten Band nachzulesen ist:

Christoph Geisselhart: Pete, deine Rockoper Tommy wird im Mai vierzig Jahre alt. Gibt es irgendwelche Pläne, diesen runden Geburtstag zu feiern?
Pete Townshend: Nein. Ich habe ein paar in Erwägung gezogen, aber dann beschlossen, bis zum fünfzigsten zu warten.

In einem Interview hast du einmal gesagt, ein Album wie Tommy wäre heutzutage weder möglich noch erfolgreich. Ist es heute schwieriger für Künstler und Musiker, den Durchbruch zu schaffen?
Pete: Ja, das ist schwieriger. Aber die Musikkritiker sind auch zu engstirnig und wissen vermutlich nicht wirklich, worüber sie die meiste Zeit reden. Sie animieren Künstler nicht, etwas zu riskieren. Sie bestärken sie nur darin, bescheiden zu sein, gewöhnlich und langweilig. Ergebenheit wird als bevorzugtes Gut angesehen. Aber große Musik setzt manchmal die Kombination von Absurdität und Arroganz eines Genies voraus – schaut euch doch bloß mal Wagner an.

Was hältst du von iTunes? Glaubst du, das Internet kann jungen Musikern wirklich helfen, irgendetwas anderes als – vielleicht – Bekanntheit zu erreichen? Wie sollte Musik deiner Meinung nach verbreitet werden?
Pete: iTunes ist zuallererst eine Bank. Es ist eine parasitär an die Welt der Musik angehängte Maschine. Und es ist ein grandioses Softwareteil, das ich mit Vergnügen benutze; aber es diktiert dem Künstler allgemeine Geschäftsbedingungen, die unvertretbar, ja unhaltbar sind. Quadrophenia und Tommy hätte es mit iTunes nie gegeben. Wir hätten nicht darauf bestehen können, dass die Leute das gesamte Werk hören. „Pinball Wizard“ ist nicht Tommy, und „5.15“ ist nicht Quadrophenia. Du musst diese Songs im Zusammenhang hören. iTunes sollte kostenlose Hörproben von ganzen Alben erlauben, sobald ein Kunde ein einziges Stück gekauft hat – wie ich das neun Jahre lang auf meiner Webseite gemacht habe. Aber sie sorgen sich wahrscheinlich um die Kosten der dafür erforderlichen Bandbreite.

Was bedeuten The Who für dich heute? Sind The Who nur du und Roger? Oder etwas Größeres, eine Idee, „ein wildes Tier“, wie du einmal gesagt hast?
Pete: Es ist ein Tier außerhalb von Roger und mir, aber wir stimmen beide darin überein, dass, sobald wir gemeinsam auf der Bühne stehen, diesem Tier ein echter Pelz zu wachsen scheint.

Einer der interessantesten Aspekte von Rockmusik ist, dass sie von Gruppen gemacht wird. Natürlich gab und gibt es sehr begabte und erfolgreiche Individuen, aber das erste, woran man bei Rockmusik denkt, sind die Bands. Was war deine wichtigste Erfahrung als Mitglied einer Rockgruppe?
Pete: Im Falle von The Who bedeutet Rockmusik, dass sie von einer Gruppe aufgeführt wird, jedoch von einem Individuum komponiert wurde. Das Beste daran, in einer Band zu sein, ist das Gefühl, sicher zu sein, unter Freunden.

Über deinen Song „Mirror Door“ auf dem letzten Who-Album Endless Wire hast du gesagt, dass er eine poetische Beschreibung darstelle, was passieren könne, wenn Zuhörer bei einem Rockkonzert in eine besondere Stimmung gelangen. Sie würden dann „meditieren“, in gewisser Weise der Zeit eine Weile entkommen können, und das Wissen über diese Fähigkeit könne ihnen verraten, wer wir Menschen in Wahrheit seien und welche Bedürfnisse wir wirklich haben. Hast du selbst solche Gefühle während eines Who-Konzerts? Oder glaubst, das ist etwas, was nur dem Publikum passiert?
Pete: Auftritte mit The Who sind für mich kein Vergnügen. Ich hatte dieses Gefühl, als ich Teil des Publikums war, bei The Clash oder bei Bruce Springsteen, aber nicht auf der Bühne mit The Who. Dort fühle ich mich eher wie ein Klempner oder Tischler – mein Job ist es, einen guten Job zu machen und nicht zu einem anderen Planeten abzuheben. Vor Publikum aufzutreten bringt mir aber Erfüllung, weshalb ich auch weiterhin auftreten werde.

Glaubst du, Zorn und Wut, was The Who in ihrer Musik ausgedrückt haben, sind für einen Künstler die stärkere Ambition und – für das Publikum vor allem – die stärkere Emotion als zum Beispiel Liebe?
Pete: Beides ist gleich stark, würde ich sagen. Rockmusik ist in der Lage, beides auszudrücken. „Love Reign O’ver Me“ zum Beispiel artikuliert beides im selben Song.

Dein Verständnis von Spiritualität und dein musikalisches Werk wurden von den Lehren des Meher Baba beeinflusst. In frühen Interviews hast du gesagt, es sei vor allem eine intellektuelle Annäherung gewesen. Praktizierst du heute irgendeine spirituelle Übung wie Yoga oder Meditation?
Pete: Beides. Bis vor kurzem habe ich das nicht getan. Ich habe vor ungefähr fünf Jahren damit begonnen. Meher Baba hat seinen westlichen Anhängern Meditation weder empfohlen noch gelehrt.

Glaubst du an Gott? Was bedeutet dieser Begriff für dich?
Pete: Der Kosmos, die Geschichte, unendlicher Raum, Jahrmilliarden, Quantenphysik – das alles deutet etwas an, oder nicht? Ich denke nicht, dass es wichtig ist, was ich glaube. Alles, was zählt, ist, dass ich nicht so tue, als ob ich irgend etwas sicher wüsste. Falls sich Meher Baba beispielsweise als Scharlatan entpuppen sollte, hätte ich immer noch das Gefühl, eine gute Wahl getroffen zu haben (oder dass er mit mir eine gute Wahl getroffen hat), weil ich meine Zeit als einer seiner Anhänger genossen habe. Ich denke, Reinkarnation erklärt etwas über das Chaos im menschlichen Verhalten, aber wir wissen nicht, ob sie geschieht, womit sogar das Nachdenken darüber schon vergeudete Zeit ist. Ich lebe einfach nur und tue mein Bestes und versuche, mir keine Sorgen zu machen. Sehr verzwickt das alles.

Hast du eine Ahnung, wie viele Gitarren du bis heute zerstört hast?
Pete: Wenn ich sie gezählt hätte, hätte ich die These meines Kunstlehrers Gustav Metzger verraten, die verlangt, dass wir der Begeisterung der bürgerlichen Gesellschaft an Eitelkeit und künstlerischen Bagatellen widerstehen, solange die Zivilisation die Natur zerstört.

Im Januar 2003 bist du ins Visier der Internetermittlung „Operation Ore“ geraten und wurdest ihr prominentestes Opfer. Wie hat diese Erfahrung deine Sichtweise auf das Internet verändert? Glaubst du noch, dass es ein Medium ist, mit dessen Hilfe die Menschen spirituell wachsen können? Was meinst du, wird der nächste Schritt sein in der technischen und gesellschaftlichen Entwicklung unserer Kommunikation? Und was hältst du für das größte Problem im virtuellen Raum?
Pete: Ich versuche, meine Augen vor dem widerwärtigsten Zeug im Internet zu verschließen. Ich leide am ‚Weißen-Ritter-Syndrom‘, wie ich es nenne. Ich will Anklage erheben gegen die Ausbeutung aller leidenden Seelen im Internet. Das ist ein überheblicher Fehler. Ich bin bloß ein Musiker und Komponist. Meine Berühmtheit verleiht mir keine übermenschlichen Kräfte.

Wie sieht es mit einem Nachfolgealbum von Endless Wire aus? Woran arbeitest du im Moment?
Pete: Im Augenblick schreibe und komponiere ich, und ich habe vor, die meiste Zeit des Jahres 2009 damit zu verbringen. Ich versuche nicht, ein Who-Album zu schreiben. Das soll aber nicht heißen, dass ich nicht doch mit einem ankomme.

Wann kommst du wieder nach Deutschland, in die Schweiz, nach Österreich, in die Niederlande, nach Frankreich, Italien … alle warten auf dich.
Pete: Daraus wird leider für lange Zeit nichts mehr. Ich habe nicht damit abgeschlossen, vor Publikum aufzutreten, aber das Touren beginnt mich zu ermüden. Vielleicht haben wir seit 2006 zu viele Shows gemacht. Wir haben so viele gemacht, dass ich aufgehört habe, sie zu zählen …

Copyright 2009 Christoph Geisselhart und Pete Townshend.
Alle Rechte vorbehalten.
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(Das vollständige Interview findet sich im dritten Band der deutschen Biografie „The Who – Maximum Rock“ von Christoph Geisselhart)